Jeder zweite Beschäftigte geht krank zur Arbeit

Foto: Roman Samborskyi/Shutterstock.com

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Mit positivem Corona-Test ist die Sache ganz klar: Das Büro bleibt tabu. Was aber, wenn Kopfschmerzen plagen oder gar eine depressive Phase beginnt? Viele Menschen schleppen sich dann doch zur Arbeit. Präsentismus nennt sich das Phänomen - und weder den kranken Arbeitnehmern noch den Arbeitgebern ist damit laut Experten geholfen.

 

Durch den falschen Ehrgeiz entstehen immense Kosten

Jeder zweite Beschäftigte (51 Prozent) in Deutschland geht manchmal, häufig oder sehr häufig krank zur Arbeit, wie das Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung aus Konstanz für die Techniker Krankenkasse herausfand. Frauen neigen laut der Studie zufolge eher zu Präsentismus als ihre männlichen Kollegen.

"Betriebswirtschaftlich gesehen sind die Kosten, die durch Präsentismus entstehen, mindestens so hoch wie die Kosten durch krankheitsbedingte Fehlzeiten", heißt es laut der dpa bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Nach Einschätzung des Psychologen Simon Hahnzog könnte der Anteil sogar noch größer sein. Die Kosten, die Unternehmen durch Präsentismus entstehen, seien etwa doppelt so hoch wie durch tatsächlich oder angeblich kranke Arbeitnehmer zusammen. Viele Firmen hätten aber mehr Sorgen wegen Blaumachern und steckten mehr Energie und Geld in den Kampf gegen diesen Absentismus.

 

Gefährlicher "Lawineneffekt"

Wer krank arbeitet, ist nur eingeschränkt leistungsfähig, erklärt Hahnzog: "Ich bin acht Stunden da, arbeite effektiv aber nur fünf." Auch passierten Kranken häufiger Fehler, was wiederum zu Folgekosten führen kann. "Das ist ein Lawineneffekt. Wenn einer einen Fehler macht, müssen unter Umständen zehn andere eine Stunde mehr arbeiten", so der Experte. Auch passierten signifikant mehr Unfälle, wenn man krank zur Arbeit gehe. Und dauerhafter, regelmäßiger Präsentismus erhöhe das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und psychische Störungen.

Die Zahl der Fehltage vor allem wegen psychischer Erkrankungen steige seit Jahren, sagt Simon Senner, Chefarzt im Zentrum für Psychiatrie Reichenau/Konstanz. Am Anfang der Corona-Pandemie habe dieser Trend gestoppt. "Wahrscheinlich haben Existenzängste dazu geführt, dass sich mehr Menschen zur Arbeit geschleppt haben", meint Senner. Spätestens seit Herbst 2020 gehe die Zahl der Fehltage wieder hoch.

 

Homeoffice macht das Problem noch gravierender

Hahnzog geht davon aus, dass die Entwicklungen infolge der Pandemie die Lage sogar noch verschärfen: "Im Homeoffice ist die Schwelle viel kleiner geworden, doch zu arbeiten. So richtig krank bin ich ja nicht, da kann ich mich kurz in einen Zoom-Call schalten." Führungskräfte wiederum hätten den Gesundheitszustand der Angestellten im Homeoffice weniger gut im Blick.

Nach dem Arbeitsschutzgesetz sind Arbeitgeber verpflichtet, eine psychische Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, wie Senner betont. Nach seiner Einschätzung hat das aber nur die Hälfte gemacht. Während bei körperlichen Gefahren relativ einfach Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden könnten, sei das bei psychischen Belastungen schwieriger. Führungskräfte könnten aber lernen, wie sie mögliche psychische Störungen erkennen und wie sie dann Mitarbeitende adäquat darauf ansprechen und Unterstützung anbieten können.

 

Immer mehr Hilfsangebote

Dem Trend folgend gibt es inzwischen unter anderem viele App-Angebote für Menschen mit psychischen Belastungen, sagt Senner, der auch Mitglied im medizinischen Beirat von Wellster ist, einem Anbieter für digitale Gesundheitsplattformen. "Für Themen wie mentale Gesundheit am Arbeitsplatz gibt es Geld, da wird investiert."

Ein Beispiel ist das Start-up Heyvie aus Karlsruhe, das Menschen mit Migräne helfen will. Marius Krämer und Hady Daboul wollen mit sogenanntem neurozentrischen Training den Betroffenen den Schmerz nehmen.

 

28.07.2022